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Verband der kommunalen
Wahlbeamten in Hessen e.V.

kuratiert von
Karl-Christian Schelzke

Im Sommer 2016 ertrinken in der nordhessischen Kleinstadt Neukirchen drei Kinder, die unbeaufsichtigt unterwegs waren, in einem seit über hundert Jahren zum Baden genutzten Dorfteich. Vier Jahre später wird der ehemalige Bürgermeister Klemens Olbrich vom Landgericht Marburg wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen für schuldig gesprochen. Das zuständige Amtsgericht verurteilt ihn zu 12.000 Euro Geldstrafe wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen. Er sei an dem Unglück mitschuldig, da er seine Verkehrssicherungspflicht vernachlässigt habe. Er hätte die gefährlichen Uferstellen nicht gesichert.

Im erstinstanzlichen Verfahren vor dem Amtsgericht Schwalmstadt habe ich Bürgermeister Olbrich als Strafverteidiger vertreten und das Gericht eindringlich darauf hingewiesen, dass niemand vor Ort, auch nicht Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr oder des Ortsbeirates, auch nur ansatzweise auf entsprechende Gefahren hingewiesen haben.

Des Weiteren wurde eine Vielzahl von vergleichbaren, nicht gesicherten Wasserflächen dem Gericht zur Kenntnis gegeben. Hierdurch sollte dargelegt werden, dass Bürgermeister Olbrich nicht gegen die geforderte verkehrsübliche Sorgfaltspflicht verstoßen hat. Auch in anderen Strafverfahren habe ich den Eindruck gewonnen, dass entgegen der in Hessen geltenden Unechten Magistratsverfassung, Staatsanwaltschaften und Gerichte von einer Allzuständigkeit der hessischen Bürgermeisterinnen und Bürgermeister ausgehen. Im Rahmen der Veranstaltung zum 125-jährigen Bestehen der hessischen Bürgermeistervereinigung haben wir die Frage in der Raum gestellt, ob die nur in Hessen und Bremerhaven geltende Unechte Magistratsverfassung noch zeitgemäß ist. Der VKWH wird eine öffentliche Diskussion hierzu auf den Weg bringen. (Über die am 18. November 2022 in Wiesbaden stattgefundene Jubiläumsveranstaltung wird noch eine Dokumentation erscheinen).

Unter Bezugnahme auf das oben genannte Urteil hat Ralf Euler in der FAZ vom 9. Februar 2023 unter der Überschrift „Last der Verantwortung“ folgende überaus treffende Anmerkungen geäußert: "Der Fall ist „symptomatisch für den zunehmenden Verantwortungsdruck, unter dem Kommunalpolitiker leiden müssen. Beleidigungen, Drohungen und Verleumdungen im Internet sind bei vielen Amtsträgern bereits an der Tagesordnung. Wenn sie sich nun auch noch um alle möglichen Gefahrenstellen in ihrer Gemeinde kümmern sollen, wird sich jeder mögliche Bewerber noch dreimal öfter überlegen, ob er sich ein solch riskantes Amt zumuten möchte. Bürgermeister sollen sich ‚nach bestem Wissen und Gewissen‘, wie es in der Vereidigungsformel heißt, für ihre Bürger einsetzen. Das kann aber nicht bedeuten, dass sie für jedes Lebensrisiko Verantwortung tragen und für alles, was in ihrer Gemeinde geschieht, persönlich zur Rechenschaft gezogen werden dürfen.“

In gleicher Art und Weise hat sich eine Leserin im Starkenburger Echo vom 3. März 2023 geäußert: „Kann und muss eine Gemeinde die Menschen vor allen Tücken des Lebens schützen. … Wer kann und möchte es sich andernfalls noch leisten, als Bürgermeister zu kandidieren, wenn solche Urteile zum Präzedenzfall werden?“

Die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum bringt es in ihrem Buch „Königreich der Angst“, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, 2019, eindrucksvoll auf den Punkt, wenn sie schreibt: Wir erwarten, „dass die Welt zu unseren Diensten steht. Zu denken, an jedem schlimmen Ereignis sei irgendjemand schuld, befriedigt unser Ego und ist in einem tieferen Sinn beruhigend. Die Schuldzuweisung und die Verfolgung des ‚Missetäters‘ sind zutiefst tröstlich; Sie geben uns das Gefühl von Kontrolle statt Hilflosigkeit.“