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Die Demokratie vor Ort ist gefährdet

Durch die Ermordung von Walther Lübcke im vergangenen Jahr nehmen wir eine erhöhte Aufmerksamkeit zum Thema Bedrohung auch bei den Mandatsträgern selbst wahr. In einzelnen persönlich geführten Beratungsgesprächen habe ich festgestellt, dass Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker, die in der Vergangenheit schon bedroht worden sind, vermeintlich Stärke zeigen wollten und Bedrohungen nicht angezeigt haben, auch um sich augenscheinlich unbeeindruckt zu zeigen. Der Eindruck der Schwäche sollte auf jeden Fall vermieden werden.

Durch die breite gesellschaftliche Resonanz auf die Gewalttat in Kassel, fühlten sich jetzt Politikerinnen und Politiker ermutigt, offen mit Anfeindungen und Bedrohungen umzugehen. Nicht nur Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker sowie lokale Ehrenamtliche erfahren Anfeindungen, offenen Hass und Hetze. Dies betrifft zunehmend auch die weiteren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Behörden vor Ort: Laut einer Umfrage des DStGB sind inzwischen rund 40% der deutschen Verwaltungen Bedrohungen ausgesetzt.

Hiergegen müssen wir uns zur Wehr setzen, ansonsten werden sich in Zukunft kaum noch Menschen aus Angst vor bedrohlichen Reaktionen bereitfinden, in ihrer Kommune politische Verantwortung zu übernehmen. Hierdurch entsteht die Gefahr, dass der lokalen Demokratie die Akteure fehlen werden.

Nicht nur um einen Überblick über konkrete Bedrohungslagen zu gewinnen, sondern auch, um in den aktuellen Situationen Betroffenen zu helfen, hat RA Karl-Christian Schelzke, der Geschäftsführer des VKWH, angeboten, Betroffenen in ihrer rechtlichen Lage zu beraten.

Der Hessische Rundfunk ist dank dieser und anderer Interventionen bereit gewesen, eine Online-Umfrage unter allen 423 hessischen Gemeinden und 21 Landkreisen durchzuführen.

Rund 73%, das sind 322 Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, Landräte und Landrätinnen sind dem Aufruf gefolgt und haben sich an der Umfrage beteiligt. Das Ergebnis ist erschreckend: In mehr als 200 Gemeinden und Landkreisen gab es in den vergangenen 12 Monaten Probleme mit Anfeindungen. Von den Bürgermeister/innen und Landräten und Landrätinnen selbst wurden mehr als die Hälfte beleidigt. Jeder 10. wurde bedroht. Bei den Gemeindemitarbeitern gaben 42% an im vergangenen Jahr beleidigt oder bedroht worden zu sein.

Für einige sind die Bedrohungen und Beschimpfungen so gravierend, dass sie ernsthaft darüber nachdenken, sich nicht mehr zur Wahl zu stellen. Mehr als jede/r fünfte Bürgermeister/in, der beziehungsweise die bedroht oder beleidigt wurde, hat mit dem Gedanken gespielt, das Amt aufzugeben. Fast jeder zehnte Bedrohte hat schon psychologische Hilfe in Anspruch genommen.

Bei der Frage inwiefern sich das Klima verändert hat, sind sich die Politiker weitgehend einig. 80% sind der Meinung, der Respekt von Bürgerinnen und Bürgern gegenüber der Politik habe abgenommen. 84% aller Befragten verlangten striktere Gesetze. Soweit die Erkenntnisse des Hessischen Rundfunks.

Die Verrohung in der politischen Debattenkultur wird durch Wahlerfolge populistischer und extremer Gruppierungen verstärkt, wenn nicht sogar ausgelöst. Dieser schleichende Prozess stellt die Zukunft der Demokratie vor Ort in Frage. Notwendig ist eine Sensibilisierung der Öffentlichkeit für den Schutz des Gemeinwesens und der lokalen Demokratie. Hier ist vor allem auch die Zivilgesellschaft gefragt.

Es gilt Mittel, Wege und Möglichkeiten zu finden, um die Menschen direkt vor Ort anzusprechen und auf diese Gefährdungslage aufmerksam zu machen. Ein bewährter Ansprechpartner in diesem Sinne sind die kommunalen Präventionsgremien. Eine Trendwende in der politischen Kultur kann vom Staat in seinen Organen nicht alleine geleistet werden. Prävention und Demokratieförderung sind geradezu ein Musterbeispiel, eine Aufgabe, die der Initiative und des dauernden ehrenamtlichen Engagements einzelner Bürgerinnen und Bürger bedarf.

Im Kern geht es darum, in kleinräumigen Zusammenhängen Gefährdungslagen zu erkennen und gemeinsam jeweils eine örtliche Strategie für den Erhalt und die Stärkung des demokratischen Miteinanders zu entwickeln. Der Schutz der Demokratie braucht bürgerschaftliches Engagement, die Idee in einer Gemeinde gemeinschaftlich für ein lebenswerteres Umfeld zu sorgen und aus konkreten Erfahrungen zu lernen. Die Projektidee wird vom Landespräventionsrat begrüßt. Gemeinsam wurde inzwischen eine Kommune in den Blick genommen, in der dieses Präventionsprojekt modellhaft realisiert werden soll.

Im Regierungsentwurf zur Novelle der Hessischen Gemeindeordnung aus dem Jahre 1952 steht der denkwürdige Satz: „Die politische Willensbildung des gesamten Volkes (vollzieht sich) vornehmlich in den Gemeinden. Hier werden nicht nur die Redeschlachten der Bürger untereinander ausgetragen, hier sprechen nicht bloß die Parteien unmittelbar den Staatsbürger mit guten oder schlechten Einfluss an – ,hier sammelt überhaupt der Bürger die Eindrücke und Erfahrungen nach denen er den ganzen Staat beurteilt“.

Insofern ist derzeit die lokale Demokratie nicht nur von außen gefährdet, sondern auch von innen in der politischen Alltagskultur in unseren Gemeinden. Mehr noch, die aktive Selbstorganisation der Bürgerinnen und Bürger ist gefordert, die sich an demokratischen Prinzipien orientiert: Bürgersinn und freiwilliges Engagement, Zivilcourage und Solidarität.