Depesche

Nr. 8 2021

Notizen für Wahlbeamtinnen und -beamte
Kuratiert von Karl-Christian Schelzke

- Interviews mit Bürgermeistern und Bürgermeisterinnen zu Bedrohungssituationen und zu den Pandemiefolgen im ländlichen Raum
- Muss es für alle Unglücke immer einen Schuldigen oder eine Schuldige geben?
- Lesenswert: Martha Nussbaum, Königreich der Angst, Gedanken zur aktuellen politischen Krise

  1. Interviews mit Bürgermeistern und Bürgermeisterinnen
    zu Bedrohungssituationen und
    zu den Pandemiefolgen im ländlichen Raum

 

  1. a) Bedrohungslage

Bürgermeisterinnen und Bürgermeister leisten einen zentralen Beitrag zur Demokratie. Doch noch immer geraten sie in den Fokus von Beschimpfungen, Beleidigungen oder gar Bedrohungen. Nach einer Umfrage der Zeitschrift „kommunal“ im Jahr 2020 haben 64% der Befragten aus Kommunalpolitik und Verwaltung der Frage „Sind Sie im Rahmen ihrer Tätigkeit schon einmal selbst beleidigt, beschimpft, bedroht oder sogar tätlich angegriffen worden?“ zugestimmt; 50% geben an, mehrfach derart angefeindet worden zu sein.

Um einen vertiefenden Einblick in solche Bedrohungslagen zu gewinnen und dabei sowohl vorhandene Bewältigungsstrategien als auch Unterstützungsbedarfe sichtbar zu machen, findet derzeit in Zusammenarbeit mit dem Demokratiezentrum Marburg und dem Verband der kommunalen Wahlbeamten in Hessen (VKWH) eine Studie zu „Erfahrungen mit Bedrohungslagen von Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern in Hessen“ statt. Nora Zado, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Demokratiezentrum Marburg, und auch der Unterzeichner werden sich bei den in Frage kommenden Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern in den kommenden Wochen zwecks Terminvereinbarung für ein kürzeres Interview schriftlich oder auch telefonisch melden. Die Gespräche sind vertraulich. Die Interviews werden anonymisiert, transkribiert und vergleichend ausgewertet. Die Auswertung wird im Rahmen einer eigenen Publikation Ende 2021/Anfang 2022 veröffentlicht.

 

  1. b) Pandemiefolgen im ländlichen Raum

Zu einem anderen Thema: Die Akademie der Forschung und Planung beabsichtigt, mit Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern und gegebenenfalls mit weiteren Personen der Frage nachzugehen, welche Folgen die Corona-Pandemie im ländlichen Raum verursacht. Auch in diesem Fall werden mit den in Betracht kommenden Personen Terminanfragen erfolgen.

In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass die preisgekrönte Kabarettistin Monika Gruber eine realistische Arbeitshypothese formuliert, wenn sie ausführt: „Gerade die Corona-Krise hat gezeigt, dass Großstädter und Menschen aus Ballungsräumen weniger gut mit einer Ausnahmesituation zurechtkommen und deutlich aggressiver reagieren als die Menschen auf dem Land, auf die all die Diskussionen um geschlossene Kitas und Notbetreuung in Schulen, Homeoffice und Einlasssperren in Bau- und Supermärkten eher befremdlich wirken. Und während viele Großstädter – in ihren gesellschaftlichen Blasen lebend – eher dazu neigen, auf die Landbevölkerung herabzuschauen, erweist sich diese – weil sozialisiert in Vereinen und Gruppierungen und in einer gemischten Nachbarschaft lebend – als pragmatischer und nervlich belastbarer.“

Monika Gruber und Andreas Hock, UND ERLÖSE UNS VON DEN BLÖDEN, Seite 110, Verlag Piper

 

  1. Muss es für alle Unglücke immer einen Schuldigen oder eine Schuldige geben?

Die Staatsanwaltschaft Koblenz hat gegen den Landrat des Ahrtalkreises wegen fahrlässiger Tötung ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Ihm wird zur Last gelegt, dass er keine rechtzeitigen Warnungen veranlasst haben soll. Es mag sein, dass sich dieser Vorwurf als berechtigt erweist. In diesem Zusammenhang erinnert mich die Frage nach den vermeintlich Schuldigen an das noch nicht abgeschlossene Verfahren gegen den damaligen Bürgermeister der Stadt Neukirchen, der in erster Instanz verurteilt wurde, weil er einen seit über 100 Jahren bestehenden Teich nicht hat absichern lassen. Drei Kinder sind dort ertrunken. Niemand im Ortsteil Seigertshausen mit seinen 640 Einwohnerinnen und Einwohnern hat jemals eine über die übliche Gefahr, die von jedem offenen Wasser ausgeht, die Notwendigkeit für Sicherungsmaßnahmen gesehen. Während des Ermittlungsverfahrens und auch vor dem Amtsgericht Schwalmstadt wurde Martha Nussbaum, Philosophin und Professorin für Rechtswissenschaften und Ethik an der University of Chicago und Preisträgerin des renommierten Berggruen-Preises, zitiert. Diese weist in ihrem Buch „Königreich der Angst“ (siehe auch 3.) auf folgende menschliche Verhaltensweisen hin: „Wir nehmen Schuldzuweisungen vor, auch wenn keine Schuld vorliegt. … Zu denken, an jedem schlimmen Ereignis sei irgendjemand schuld, … befriedigt unser Ego … Hierdurch ergibt sich „ein Gefühl von Kontrolle statt Hilflosigkeit.“  Das ist gerade auch im kommunalpolitischen Umfeld zitierfähig, auch vor dem Hintergrund, dass in nicht wenigen Kommunen, aus Angst vor strafrechtlichen Folgen, Überlegungen angestellt werden, grundsätzlich alle offenen Wasserflächen einzuzäunen.
 

  1. Lesenswert: Martha Nussbaum, Königreich der Angst, Gedanken zur aktuellen politischen Krise

Medimpos.de zu diesem Buch: „Die aktuelle Stimmung in der westlichen Welt ist gekennzeichnet durch eine scharfe gesellschaftliche Spaltung, eine Rhetorik der Ausgrenzung und die Unfähigkeit der gesellschaftlichen Lager, miteinander zu kommunizieren. Martha Nussbaum nimmt den Kern des Problems in den Blick, der in vielen Analysen zu kurz kommt: Das Politische ist immer auch emotional. Die Globalisierung hat bei zahlreichen Bürgern und Bürgerinnen der westlichen Gesellschaften ein Gefühl der Machtlosigkeit hervorgerufen, das zu Ressentiments und Schuldzuweisungen führt: Schuld an der Misere sollen wahlweise die Immigranten sein, die Muslime, andere Volksgruppen. Nussbaum zeigt, dass diese Mechanismen auf allen Seiten des politischen Spektrums am Werk sind - links ebenso wie rechts - und stellt Überlegungen an, wie gespaltene und polarisierte Gesellschaften wieder zusammenfinden könnten.“

Auch wenn es in diesem Buch (Taschenbuch, btb Verlag 2020) vor allem um die sozialen und politischen Verwerfungen der US-amerikanischen Gesellschaft unter der Trump-Präsidentschaft geht, so lassen sich doch allgemein gültige Aussagen, gerade auch in Corona-Zeiten, gewinnen. Querdenker und Verschwörungstheoretiker haben mit Trumpscher Rhetorik und Verhaltensweisen vieles gemein. 

 

        Das war’s für heute. Bleiben Sie gesund und hoffnungsvoll

        Mit herzlichen und kollegialen Grüße

        Ihnen Ihr Karl-Christian Schelzke

 Depesche Nr. 8 16.8.2021