Depesche

Nr. 5 2021

Notizen für Wahlbeamtinnen und -beamte
Kuratiert von Karl-Christian Schelzke
- Ein bemerkenswertes Interview: »Demokratie noch nie so gefährdet«
- So vertrauen jungen Menschen Bürgermeister*innen
- Zwölf goldene, „gegenderte“ Regeln im Umgang mit Bürgermeister*innen

  1. Ein bemerkenswertes Interview: »Demokratie noch nie so gefährdet«

In der ‚Gießener Allgemeine‘ vom 6. Mai 2021 findet sich ein Interview mit dem früheren Bürgermeister von Lich, das die derzeitige Realität widerspiegelt und das von Christa Jung klug geführt wurde. Hier ein paar Auszüge:

„Auf der Straße beschimpft oder beleidigt, im Netz oder per E-Mail diffamiert - auch im Landkreis haben Bürgermeister solche und schlimmere Erfahrungen gemacht. Zuletzt der Licher Verwaltungschef Dr. Julien Neubert. Amtsvorgänger Bernd Klein (54) spricht im Interview über die entsolidarisierte Gesellschaft, ihre Gefahr für die Demokratie und das neue Online-Portal »Stark im Amt«, über das Klein sagt: Das ist ein Heftpflaster auf ein Symptom, dessen Ursache nicht bekämpft wird.

57 Prozent der Bürgermeister sind einer aktuellen Umfrage zufolge schon einmal beleidigt oder angegriffen worden. Auch Sie haben solche Erfahrungen gemacht. Was ist das für ein Gefühl?

Das macht betroffen. Es erschreckt, wozu Menschen in unserem Staat mittlerweile fähig sind, wenn ihre Meinung nicht vertreten wird. Und es lässt über das Gesamtsystem nachdenken.

Inwiefern?

Wenn man in einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung groß geworden ist und gelernt hat, die Meinung des anderen zu respektieren, insbesondere, wenn man sich rechtstaatlich verhält und durch Beschlüsse kommunaler Gremien entsprechend handelt, dann zeugt es von einer Veränderung der Gesellschaft, wenn als Reaktion darauf eine rein verbale Meinungsäußerung nicht mehr ausreicht. Die Grundregeln zählen nicht mehr.

Welcher Art waren die Übergriffe auf Sie und wie haben sie sich im Verlauf Ihrer zwölfjährigen Amtszeit verändert?

Zum ersten Mal spürbar war das, als ich mich 2011 der Veränderung der Verkehrsführung in Lich angenommen hatte. Dazu habe ich viele Gespräche geführt, mit Verkehrsbehörden, Polizei, Hessen Mobil und Vertretern des Innenstadthandels. Von Letzteren wurde ich beschimpft, runtergemacht und beleidigt.

Gab es einen Art Wendepunkt?

Einen großen Knacks hat es 2015 gegeben, als die ersten Flüchtlinge zu uns kamen und wir uns um deren Aufnahme und Begleitung kümmerten. Die Stimmung wurde immer aggressiver. Es wurde angezweifelt, was wir tun und warum wir das tun. Fakten reichten nicht mehr aus. Kommunale Vertreter wurden persönlich angegangen. Das war sehr extrem. Über E-Mails und in den sozialen Netzwerken gingen bei mir und meinen Amtskollegen zahlreiche Diffamierungen und Beleidigungen ein, teilweise sogar Morddrohungen. Damals habe ich erstmals darüber nachgedacht, ob ich das wirklich alles machen will.

Hat es letztlich auch Ihre Entscheidung beeinflusst, 2019 nicht mehr bei der Bürgermeister-wahl anzutreten?

Auf jeden Fall. Als Politiker ist man heute ja quasi Freiwild in einer immer radikaler werdenden Gesellschaft. Aber hinter jedem Politiker steckt auch ein Mensch, eine Familie. Ich bin einmal angetreten, um etwas für die Allgemeinheit zu tun. Das Wohl aller stand für mich im Vordergrund. Doch in den letzten Jahren hat sich der Blick darauf in der Gesellschaft vehement verändert. Es wird nicht mehr das Ganze gesehen, sondern nur noch der eigene Vorgarten. Was darüber hinaus geht, interessiert nur, wenn der Nachbar die Mauer zu hochgezogen hat. Das ist immer extremer und in den sozialen Medien immer stärker spürbar geworden. In Form von enthemmten Kommentaren, öffentlichen Diffamierungen, Unterstellungen. Ich wurde sogar wegen Vorteilsnahme und Betruges anonym angezeigt.

Seit Ausbruch der Pandemie haben die Übergriffe auf Kommunalpolitiker noch einmal zugenommen. Wie erklären Sie sich das?

Ob 2015 oder 2020 - sobald Menschen Einschränkungen erfahren, entsteht Unzufriedenheit. Egal, ob sie Angst davor haben, mit Flüchtlingen überflutet zu werden oder man sie ihrer Möglichkeiten beraubt wie in der Pandemie. Wir leben mittlerweile in einer entsolidarisierten Gesellschaft, die auf dem Glauben basiert, allein alles schaffen zu können und den anderen nicht zu brauchen. Die Menschen sind nicht mehr bereit, von ihrem bequemen Sofa auf einen unbequemen Stuhl zu wechseln, damit es auch anderen bessergeht.

Ist diese Entwicklung aufzuhalten?

Ich denke, nein. Und wenn doch, ist es ein langer und schwieriger Prozess. Denn es bedeutet für jeden Einzelnen Verzicht. Die Änderung von Gewohnheiten und Verhaltensweisen. Doch für die Menschen gibt es nichts Schlimmeres als Veränderung

Man hat das Gefühl, dass die Mehrheit der Betroffenen sich nicht öffentlich äußert. Warum setzen sie sich nicht offen zur Wehr?

Die Frage ist immer, was es bringt? Gegendarstellungen schreiben, um wieder einem Drohbrief oder Anfeindungen ausgesetzt zu sein? Für welches Publikum sich zur Wehr setzen? Politiker genießen grundsätzlich einen schlechten Ruf und sind alle korrupt. Und rechtliche Verfolgung? Gegen wen, Beweislast, Meinungsfreiheit. Ein schönes Beispiel dafür ist der Fall der Grünen-Politikerin Renate Künast, die wegen Beleidigung im Netz vor ein Berliner Gericht gezogen ist und in erster Instanz nicht entlastet wurde. Im Gegenteil. Politiker müssen so etwas über sich ergehen lassen. Also warum wehren? 

Sehen Sie in der Entwicklung eine Gefahr für die Demokratie?

Natürlich. Wenn das so weitergeht, wenn immer weniger Menschen an den Rechtsstaat und seine Entscheidungen glauben, wird sich das System irgendwann verändern. Die Gefahr für die Demokratie war in 75 Jahren noch nie so groß wie heute.

Das Online-Portal Stark im Amt, das der Bundespräsident vergangene Woche vorgestellt hat, soll Betroffenen Hilfe bieten. Was halten Sie davon?

Mal ganz ehrlich, was soll das? Die Problematik ist doch lange bekannt. Aber es passiert nichts. Ich schätze Frank-Walter Steinmeier sehr. Aber das ist ein Heftpflaster auf ein Symptom, dessen Ursache nicht bekämpft wird.“

 

 

  1. So vertrauen jungen Menschen Bürgermeister*innen

Ein Statement von Franz-Reinhard Habbel,Digitalpionier“ (Quelle: Kommunal.de 13.2.2021)

Soziale Medien produzieren nicht nur Hass und Hetze, es entstehen auch konstruktive Projekte. Das hohe Vertrauen junger Erwachsener unter 30 Jahren in die Kommunalpolitik ist ein Ergebnis dieser konstruktiven Diskussion vor Ort, meint Franz-Reinhard Habbel.

Vertrauen ist eine der wichtigsten Währungen. Das gilt im privaten Leben wie auch gegenüber Institutionen. In Zeiten der Veränderung ist Vertrauen besonders wichtig. Vieles ist im Werden und kann oftmals nur bedingt belegt werden. Ereignisse wie die COVID-19-Pandemie haben unmittelbaren Einfluss auf das Vertrauen in Staat und Politik. Eine jüngste Forsa-Umfrage zeigt nun, dass junge Menschen ihren Bürgermeistern deutlich stärker vertrauen als ältere Menschen.

Bürgermeister kommunizieren mehr direkt

Das ist eine bemerkenswerte Feststellung und zeigt, wie wichtig die lokale Ebene gerade für junge Menschen ist. In den Städten und Gemeinden spielt sich das reale Leben ab, hier zeigt sich, ob die Politik es mit ihrer Gestaltungsaufgabe ernst nimmt. Lokalpolitik ist näher am eigenen Leben dran, Bürgermeister treten einem direkt als Person und zunehmend auch in sozialen Netzwerken gegenüber. Das schafft Vertrauen. Es sind die lokalen Aktionsfelder, die mehr Nähe zwischen Bürgermeister und jungen Menschen bringen. Auch wenn diese oftmals kritisch bewertet werden. Über soziale Netzwerke werden von jungen Menschen Aktionen aufgesetzt.

Soziale Netzwerke nicht den Krawallmachern überlassen

Oftmals entwickeln sich daraus fruchtbare Dialoge mit Vertretern der Lokalpolitik. Bundes- und Landespolitiker sind von einer solchen, örtlich wirkungsvollen Kommunikation, weit entfernt. Initiativgruppen in Städten haben in aller Regel auch einen Bezug zur eigenen Kommune und damit zum Bürgermeister. Kritiker werden einwenden, dass die Verbreitung sozialer Medien zu Hass und Hetze, zur Destruktion und starken Polarisierung führen. Das ist leider auch so. Aber es wäre falsch, soziale Netzwerke nur den „Krawallmachern“ zu überlassen. Hier heißt es, in der Öffentlichkeit den Scheinwerfer auf konstruktive Projekte zu richten.

Ein solches Projekt ist zum Beispiel der im März 2021 stattfindende Hackathon #Update Deutschland. In den Vorbereitungsgruppen arbeiten viele Bürgermeister mit jungen Akteuren zusammen, identifizieren Herausforderungen und engagieren sich, auch die Zivilgesellschaft in ihren Orten zu aktivieren. Dazu nutzen immer mehr Bürgermeister soziale Netzwerke. Das Beispiel #Update Deutschland zeigt, wertschätzende Kommunikation schafft Vertrauen, welches wir dringend in einer sich immer schneller verändernden Welt brauchen.

Eines bleibt ganz oben auf der Tagesordnung der Politik: Die rechtlichen Rahmenbedingungen für eine solche wertschätzende Kommunikation insbesondere in sozialen Netzwerken müssen schnell geschaffen werden, sonst bleibt der Scheinwerfer aus.

 

  1. Zwölf goldene, „gegenderte“ Regeln im Umgang mit Bürgermeister*innen

                   Bürgermeister*innen  wissen alles
Erkundigen Sie sich beim Bürgermeister oder bei der Bürgermeisterin persönlich, warum die Genehmigung für Ihr Gartenhaus noch nicht gekommen oder Ihr Brief noch nicht beantwortet ist. Gerade in einer größeren Stadt wird es sie freuen, dass Sie ihnen die Kenntnis von jedem Verwaltungsvorgang zutrauen.

                   Bürgermeister*innen sind für alles zuständig
Ist ein Kanaldeckel lose, eine Straßenleuchte defekt oder haben Sie ein Schlagloch gesehen, vermeiden Sie es, den Ortsvorsteher, Ihren Stadtverordneten oder die zuständige Fachkraft im Rathaus anzusprechen. Der Bürgermeister oder die Bürgermeisterin wird sich am liebsten selbst um diese Dinge kümmern, da die Liebe zum Detail sie als gute Verwaltungschef*innen auszeichnet.

                   Bürgermeister*innen sind rund um die Uhr im Einsatz
Rufen Sie Ihren Bürgermeister oder Ihre Bürgermeisterin möglichst am Wochenende oder abends zu Hause an. Oft genug hat er oder sie eine kurze Pause zwischen den Terminen und wartet gelangweilt auf Telefonate. Ist er oder sie gerade unterwegs, freut sich die Familie, Ihnen behilflich sein zu können. Bringen Sie Kurzweil ins Privatleben.

                  Bürgermeister*innen haben immer Zeit
Telefonische Terminvereinbarungen mit dem Vorzimmer des Bürgermeisters oder der Bürgermeisterin sind überflüssiger Luxus. Marschieren sie ins Rathaus und verlangen Sie, sofort vorgelassen zu werden. Schließlich sorgen Sie nur für etwas Abwechslung in einem langweiligen und tristen Büroalltag.

                  Bürgermeister*innen lieben Überraschungen
Haben Sie doch über das Vorzimmer einen Termin vereinbart, so geben Sie auf keinen Fall den Zweck Ihres Besuchs genauer an. Ersparen Sie Ihrem Bürgermeister oder der Bürgermeisterin den Aufwand, sich auf das Gespräch vorzubereiten, sich zu erkundigen oder gar vorher in Akten nachzusehen. Spontane Antworten sind die besten.

                  Bürgermeister*innen sind Einzelkämpfer
Lassen Sie sich mit Ihrem Anliegen nicht auf die Dezernats-, Amtsleitungs- oder gar Sachbearbeitungsebene abschieben, nur weil dort diejenigen sitzen, die zuständig sind, Zeit haben und sich mit Ihrem Problem auskennen. Der Bürgermeister oder die Bürgermeisterin sollte alles am besten alleine entscheiden, da Delegation immer ein Zeichen von Schwäche ist.

                   Bürgermeister*innen haben ein perfektes Gedächtnis
Haben Sie Ihrem Bürgermeister oder Ihrer  Bürgermeisterin vor zwei Jahren am Rande einer Veranstaltung bei einem Bier in größerer Runde etwas erzählt, so wird man sich natürlich auch jetzt noch vollständig daran erinnern. Langweilen Sie nicht mit unnötigen Wiederholungen.

                   Bürgermeister*innen hören gerne alles
Wenn Sie ein Anliegen vortragen, sollten Sie nie mit der Tür ins Haus fallen. Sagen Sie auf keinen Fall gleich, weswegen Sie kommen, sondern schildern Sie zunächst Urlaub, Krankheiten, Familienstreitigkeiten usw. Durch geduldiges Zuhören muss man Dialogfähigkeit zeigen.

                   Bürgermeister*innen sind allmächtig
Lassen Sie sich von Ihrem Bürgermeister oder Ihrer Bürgermeisterin nicht abspeisen mit Hinweisen auf die Rechtslage, entgegenstehende Ratsbeschlüsse, das Gleichbehandlungsgebot, fehlende Finanzmittel oder die Zuständigkeit anderer Behörden. Das sind alles nur billige Ausflüchte. Wenn sie wollten, könnten sie selbstverständlich Ihren Wunsch erfüllen, schließlich sind hierfür gewählt.

                   Bürgermeister*innen sind Politiker
Bürgermeister oder der Bürgermeisterinnen sind Politiker, sie entscheiden also nur, wenn sie Druck bekommen oder Angst um die Stimmen der Wählerinnen und Wähler haben. Wird Ihr Wunsch nicht erfüllt, so drohen Sie am besten mit Stimmabgabe für die Konkurrenz bei der nächsten Wahl oder mit der Lokalpresse, Bürgeranträgen, Ihrem Rechtsanwalt und "BILD kämpft für Sie". Das wird ihnen einen gehörigen Schrecken einjagen und sie auf Trab bringen.

                   Bürgermeister*innen sind Beamte
Bürgermeister und Bürgermeisterinnen sind Beamte, sie eignen sich also hervorragend für Be­schimpfungen in der Öffentlichkeit. Persönliche Angriffe, Diffamierungen und Un­terstellungen in Veranstaltungen und in Leserbriefen oder Presseartikeln erfrischen das Klima, beleben die Diskussion, schulen Ihren Bürgermeister oder Ihre Bürgermeisterin im souveränen Er­tragen von unsachlicher Kritik und härten sie ab für weitere Anlässe. Sie werden es Ih­nen danken.

                   Bürgermeister*innen sind nicht zu ersetzen

Haben Sie als Vereinsvorstand Ihren Bürgermeister oder Ihre Bürgermeisterin zu einer Veranstaltung eingeladen, seien Sie tief gekränkt, wenn man nicht persönlich kommt, sondern Vertreter oder Ortsvorsteher schickt. Wer ist das schon! Glauben Sie nicht an das Märchen von der Terminüberschneidung. Man will einfach nur nicht und das nehmen zu Recht übel.

Das ist alles eigentlich nicht ernst gemeint, aber dennoch in der Erlebniswelt fast alltäglich.

 

Machen Sie es trotzdem gut und bleiben Sie gesund

das wünscht Ihnen Ihr Karl-Christian Schelzke