Depesche

Nr. 2 2023

Notizen für kommunale Wahlbeamtinnen und -beamte
Kuratiert von Karl-Christian Schelzke
Mit Blasenpolitik ist unserem Land nicht gedient
Rechtliches Gehör – ein Grundrecht, auch für Bürgermeisterinnen und Bürgermeister!
Eine Nachlese zum Hessentag
Angst und Schrecken sind zurück

Mit Blasenpolitik ist unserem Land nicht gedient

Es dürfte mit einer der größten politischen Fehler sein, wenn Politikerinnen und Politiker glauben, sie könnten die gesellschaftlichen Probleme schon richtig einschätzen und sodann auch die richtigen Entscheidungen treffen.  Man ist dann sogar überzeugt, dass die getroffenen Entscheidungen bei der Mehrheit der Bevölkerung auch auf Akzeptanz stoßen werden. Das ist „Blasendenken“, wie man es momentan auf fast allen politischen Ebenen antrifft.

Lösungsorientierte politische Entscheidungen bedürfen in der Regel einer vom-unten-nach-oben-Strategie. Man muss auf die Menschen zugehen, zuhören, ausreden lassen, ihnen die Möglichkeit geben, sich auch mit ihren Vorurteilen auszusprechen.

Es sind die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, die vor allem in kleineren und mittleren Kommunen, einen direkten Zugang zu den Menschen vor Ort haben; sei es bei Jubiläen, Vereinsfesten, beim Einkauf oder durch Äußerungen in der örtlichen Presse und sozialen Netzwerken.

Von daher haben diese gerade in Krisenzeiten die Gelegenheit, sich werbend und aufklärend für den Erhalt unserer Demokratie einzusetzen, insbesondere für die lokale Demokratie. Dies sei der Landes- und Bundespolitik ins Stammbuch geschrieben. Es ist leider immer wieder festzustellen, dass blasenbedingt die Frauen und Männer, die vor Ort mit Engagement und Zuversicht kommunalpolitische Verantwortung tragen nicht wirklich zur Kenntnis genommen werden und von dort auch nur wenig Wertschätzung erfahren.

Laut STATISTIKa haben in 2023 fast vierzig Prozent der Befragten auf die Frage „Welchen Politikern vertrauen Sie am meisten?“ mit Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern geantwortet. Landespolitiker erhielten zwölf und Bundespolitiker lediglich fünf Prozent Zustimmung.

Aufgrund ihrer Reputation sind es doch gerade die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister die – auch im Hinblick auf die kommenden Landtagswahlen –  auf die Menschen vor Ort zugehen und rechtstaatliche und demokratische Werte vermitteln können.

Der Verband der Kommunalbeamten steht mit dem Demokratie-Zentrum in Marburg in einem sehr engen Kontakt.  Wir überlegen derzeit gemeinsam, wie entsprechende Aktivitäten initiiert und unterstützt werden können. Es ist davon auszugehen, dass wir bei unserer Mitgliederversammlung am 5. September in Lich bereits einige Vorschläge werden unterbreiten können.

Denkbar wären beispielsweise Handreichungen für den Umgang mit Menschen und Milieus, die aus bestimmten Gründen bereit sind, populistische Parteien zu unterstützen. Vor Ort gilt es, Foren des Gesprächs, der Aufklärung und Sensibilisierung zu öffnen.

 

Rechtliches Gehör – ein Grundrecht, auch für Bürgermeisterinnen und Bürgermeister!

In den letzten neun Monaten haben drei Bürgermeister und ein Oberbürgermeister, nach erfolgreichen Abwahlanträgen, ihre Chefsessel geräumt. Im laufenden dürfte aller Voraussicht nach mit weiteren Abwahlanträgen zu rechnen sein.

Ein aktueller Fall gibt uns Veranlassung, eine Änderung beziehungsweise Ergänzung des § 25 Abs.2 HGO beziehungsweise des § 76 Abs. 4 HGO zu fordern.

Einer Bürgermeisterin wurde bis zur Sitzung der Gemeindevertretung, in der über einen Abwahlantrag zu entscheiden war, die Gründe und Vorwürfe nicht genannt. Unter Hinweis auf § 25 Abs. 1 HGO wurde sie vom Vorsitzenden der Gemeindevertretung aufgefordert, den Sitzungsraum zu verlassen. Dieser Aufforderung kam sie nach. Der Abwahlantrag erhielt die erforderliche Zweidrittelmehrheit.

Aufgrund des Gesetzeswortlautes des Abs. 1 HGO „Niemand darf in haupt- oder ehrenamtlicher Tätigkeit in einer Angelegenheit beratend oder entscheidend mitwirken, wenn er durch die Entscheidung in der Angelegenheit einen unmittelbaren Vorteil oder Nachteil erlangen kann“, ist davon auszugehen, dass die Entscheidung des Vorsitzenden der Gemeindevertretung rechtens ist. Zwar sieht § 25 Abs. 2 HGO eine Ausnahme für die Stimmabgabe bei Wahlen und Abberufungen vor. Dies betrifft jedoch nur den formalen Akt der Stimmabgabe.

Art. 103 GG regelt, dass vor Gericht jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör hat. Es ist unstreitig, dass diese Recht auch für Verwaltungsverfahren gilt. So wird auch in § 28 Verwaltungsverfahrensgesetz, die Anhörung Beteiligter grundsätzlich vorgeschrieben.

Man mag nun darüber streiten, ob eine Gemeindevertretung einem Verwaltungsorgan gleichzusetzen und der Ausschluss gemäß § 25 Abs. 1 HGO als Verwaltungsakt zu bewerten ist. Die Gemeindevertretung ist jedenfalls kein Parlament im materiellen Sinn. Auch wenn Regeln der Gewaltenteilung vorherrschen, so ist eine Gemeindevertretung lediglich ein Verwaltungsorgan.

Die Frage, inwieweit und vor allem zu welchem Zeitpunkt im konkreten Fall der Bürgermeisterin Gelegenheit zur Stellungnahme hätte gegeben werden müsse, bedarf der Rechtssicherheit wegen eine klare Regelung. Es widerspricht rechtstaatlichen Grundsätzen, dass man vor einer öffentlich-rechtlichen Entscheidung, bei der die eigene berufliche Existenz betroffen ist, keine Möglichkeit hat, während der Beratungen Stellung zu beziehen.

  • 25 HGO Absatz 2 sollte wie folgt ergänzt werden: „Abs. 1 gilt nicht für Abberufungen gemäß § 76 Abs. 4 HGO und für die Stimmabgabe bei Wahlen. Alternativ könnte § 76 Abs. 4 HGO dahingehend ergänzt werden, dass neben § 63 auch § 25 Abs. 1 HGO keine Anwendung findet.“

 

Eine Nachlese zum Hessentag

Hans Joachim Heist (bekannt als Gernot Hassknecht aus der ZDF-Heute-Show) hat sich auf Einladung des VKWH auf dem Hessentag in Pfungstadt als Wut-Bürgermeister präsentiert und das sehr gekonnt. Brillant und überzeugend.

Sabine Eisenmann hat diesen Auftritt in einem im Darmstädter Echos erschienen Artikel überzeugend beschrieben. Nachfolgend geben wir einige Auszüge zur Kenntnis :

In seiner Paraderolle als Gernot Hassknecht, bekannt aus der „Heute-Show“ im Fernsehen, versetzt sich der Pfungstädter Schauspieler und Satire-Star in die Rolle eines Rathauschefs. Und der hat es wahrlich nicht leicht. … Gänzlich auf die Palme bringt den Bürgermeister ein Ehepaar, das mitten in der Nacht bei ihm anruft, weil beim Nachbarn laute Musik läuft. Nach dem Motto: ‚Wenn mir net schlafe könne, dann soll es de Bürgermeister auch net‘, imitiert Hassknecht in gewohnt hessischem Dialekt den nächtlichen Anrufer. … ‚Oh, wenn ich Bürgermeister wäre!‘, ruft Hassknecht von der Bühne und erhebt dabei seinen Finger, als sei es eine Drohung. Wenn er Bürgermeister wäre, dann würde ihm so einiges einfallen, um den Menschen wieder mehr Respekt und mehr Sozialverhalten beizubringen. Denn daran mangele es zuweilen gewaltig. ‚Als Bürgermeister braucht man ein Gemüt wie ein Wirtshausstuhl. Der muss auch mit jedem Arsch zurechtkommen‘, schmettert Hassknecht und erntet dafür Lacher und Applaus. …

Am Schluss wird Hassknecht wieder zu Heist und schlägt ernste Töne an. Er sinniert über Demokratie und Meinungsfreiheit, über unsachliche und beleidigende Kommentare in sozialen Netzwerken.

Wenn er Bürgermeister wäre und ihm jemand seine Meinung sagt, auch wenn sie ihm nicht passt, damit könnte er umgehen, sagt Heist. ‚Was ich aber auf Dauer nicht ertragen kann und würde, sind die anonymen Beschimpfungen, Gewaltandrohungen bis hin zu Morddrohungen gegenüber Bürgermeistern und deren Familien‘, wettert Heist und bekommt dafür viel Beifall.“

Der Verband er kommunalen Wahlbeamten in Hessen bedankt sich ganz herzlich bei Hans-Joachim Heist für seinen engagierten Auftritt und wünscht ihm für seine kommunalpolitische Arbeit als ehrenamtlicher Stadtrat im Pfungstädter Magistrat viel Erfolg und möge er für die schwierige Arbeit von Bürgermeister Koch bei den Bürgerinnen und Bürgern um Verständnis bitten. Er weiß ja, was Sache ist.

Übrigens: Über den Auftritt gibt es ein Video, das in Ausschnitten demnächst auf unserer Homepage abgerufen werden kann.


Angst und Schrecken sind zurück

Vor wenigen Tagen fiel mir beim Aufräumen ein schmales Taschenbuch mit dem Titel „Die letzten Kinder von Schewenborn“ in die Hände. Ich erinnerte mich, dass ich dieses vor mehr als 30 Jahren geschenkt bekommen, es aber nicht gelesen habe. Jetzt aber war ich neugierig und schlug das schmale Bändchen auf.  Sozusagen als Vorwort ist ein von dem evangelischen Theologen Jörg Zink verfasster Text mit dem Titel „AM ANFANG SCHUF GOTT HIMMEL UND ERDE“.  Was dann folgt ist die Beschreibung der Apokalypse. Der Mensch vernichtet sich selbst, indem er seine Geschicke in die eignen Hände nimmt und Gott entsagt. Ab sofort glaubt er an die Freiheit, an das Glück, an die Börse und an den Fortschritt. So geschehen am ersten Tag und am siebten Tag ist die Erde wüst und leer und die Menschheitsgeschichte hat ihr selbstverschuldetes Ende gefunden.  Zink schließt mit dem Satz: „Tief unten in der Hölle, aber erzählte sich die spannende Geschichte von dem Menschen, der seine Zukunft in die Hand nahm und das Gelächter dröhnte hinauf zu den Chören der Engel. Jörg Zink hat diesen Text 1970 verfasst. Man mag den Text als zu theologisch formuliert bezeichnen; bezeichnend und erschreckend ist jedoch seine Aktualität. Man kann ihn nachlesen unter https://www.joerg-zink.de/die-letzten-sieben-tage-der-schoepfung/ .
Der Text wurde zuerst gedruckt in „Die Welt hat noch eine Zukunft – eine Einladung zum Gespräch“ (Stuttgart, Kreuz-Verlag, 1971).

Die von Gudrun Pausewang 1983 erstmals veröffentlichte Erzählung „Die letzten Kinder von Schewenborn“ schildert die verheerende, ebenfalls apokalyptischen Folgen eines Atombombenabwurfes über Fulda. Schewenborn ist ein fiktiver Ort im Vogelsberg, er hat jedoch die Stadt Schlitz in Osthessen, dem damaligen Wohnort Pausewangs, als reales Vorbild. Die Erzählung beginnt wie folgt: „Wir fuhren auf der Kasseler Autobahn bis Alsfeld, dann bogen wir in den Vogelsberg ab. Es war ein Julitag, wie man ihn sich nur wünschen kann. Mein Vater fing an zu singen, und wir sangen mit. Meine Mutter übernahm die zweite Stimme. Als wir durch Lanthen fuhren, war noch alles wie immer. Aber im Wald zwischen Lanthen und Wietig, gerade in der Kurve am Kaldener Feld, blitzte es plötzlich so grell auf, dass wir die Augen zupressen mussten. Meine Mutter stieß einen Schrei aus, und mein Vater trat so fest auf die Bremse, dass die Reifen quietschten. Der Wagen geriet ins Schleudern und blieb quer zur Fahrbahn stehen. Wir wurden in den Gurten hin- und hergerissen. Sobald der Wagen stand, sahen wir am Himmel, hinter den Wipfeln, ein blendendes Licht, weiß und schrecklich, wie das Licht eines riesigen Schweißbrenners oder eines Blitzes, der nicht vergeht. Ich schaute nur einen Augenblick hinein. Trotzdem war ich danach eine ganze Weile wie blind.“

Was folgt ist die Beschreibung der mit schrecklich noch harmlos umschriebenen Folgen einer Atombombenexplosion. Viele von uns haben in den letzten Jahren ein solches Szenario in Europa schlicht weg für unvorstellbar gehalten. Doch nun ist die Angst und der Schrecken zurückgekehrt.

Das Buch ist seinerzeit im Ravensburger Verlag erschienen und noch erhältlich.

Post Skriptum: Erinnern wir uns an Martin Luther: „Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen“.